Dienstag, 18. Dezember 2012

Generation Shahid

Obwohl in den letzten Jahren die Mauer des eisernen Schweigens im Umgang mit Israel und deren Verbrechen Risse erhalten hat, wird eine Gruppe leider viel zu oft aus der Berichterstattung einfach ausgelassen: die Kinder.

In jedem Krieg sind es die Kinder, die ihr Leben lang mit diesen Erfahrungen von Tod und Gewalt zu kämpfen haben und die Geister aus dieser Welt ihre kleinen Köpfen nie wieder verlassen werden. Natürlich betrifft dieses Drama immer Kinder auf beiden Seiten des Konfliktes. Auf beiden Seiten sind es Mütter und Väter die, wenn sie nicht gerade von Sirenen oder dem Lärm des Gefechts geweckt werden, trotzdem schlaflose Nächte verbringen weil ihre Kinder genau diesen Albtraum Nacht für Nacht durchleben.

Dieser Bericht befasst sich aber mit den Kindern in Gaza, jenem Küstenstreifen Palästina`s welcher sich zum grössten Gefängnis der Welt unter der Belagerung Israels entwickelt hat (siehe auch diesen Post). Das soll auf gar keinen Fall das Trauma von Kindern in Israel beschwichtigen oder in Abrede stellen. Dennoch muss man fair bleiben und anerkennen, dass die Kinder in Gaza (vielfach aber auch in der West Bank) unter ganz anderen Umständen ihre Umwelt kennenlernen als ihre Altersgenossen in Israel. In diesem Punkt liegen ganze Welten dazwischen, obwohl diese Kinder teilweise nur ein paar Kilometer voneinander trennen.



Während Kinder irgendwo in Tel Aviv einem geregelten Alltag entgegen sehen können, Kindergärten und Schulen, Freunde und Verwandte irgendwo im Land besuchen, und abhängig davon welchen Stellenwert die Religion in einer Familie ausmacht, auch die wichtigste Stätte des Judentums in Jerusalem besuchen können, bleibt das den allermeisten Kindern in Gaza verwehrt.
Und was am Allerwichtigsten für diese Kinder ist, was am Allerwichtigsten für ALLE Kinder dieser Welt ist, sie können sich darauf verlassen dass, wenn sie Abends nach Hause kommen, ihre kleine Welt in Ordnung ist.
Dieses elementare Gefühl der Sicherheit, welches dafür sorgt dass aus uns Menschen eine selbstsichere und verantwortungsbewusste Person wird, wurde den Kindern von Gaza, durch die Aktionen der israelischen Armee auf Anordnung der Regierung, genommen.

Diese Kinder haben in den vergangenen Jahren nichts anderes gesehen oder erlebt als Angst. Angst davor, dass ein Familienmitglied nicht mehr mit am Tisch sitzt oder dass das ganze Haus nicht mehr da ist, weil es als kollektive Strafe der Israelis in die Luft gesprengt wurde. Angst vor schreienden IDF-Soldaten die ihre Mütter, aber hauptsächlich Väter und Brüder vor allen Augen hin und her schubsen und sie erniedrigen. Angst vor jeglichen Geräuschen die aus der Luft kommen. Zu oft haben die Kinder lernen müssen, dass aus der Luft der Tod die Menschen heimsucht wenn Kampfflugzeuge, Helikopter oder Drohnen ihre Raketen und Bomben abwerfen. In Gaza spricht man nicht von einem "Post-traumatischen Syndrom" sondern von einem fortwährenden Trauma. Aber auch die Angst vor Krankheiten, die immer häufiger auftreten aufgrund von verunreinigtem Trinkwasser und stinkendem Abwasser.  Wenn die Kinder ein bisschen grösser werden und mehr verstehen können, erkennen sie die Angst in den Augen ihrer Familien und Freunden, und dass die Ruhe und Geborgenheit, die sie kannten als sie kleiner waren, nur eine schmerzhafte Fassade war um sie vor genau diesem Augenblick zu bewahren.



Nebst diesen Ängsten müssen die Kinder eine äusserst schlechte Ernährungsweise in Kauf nehmen, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Obwohl Gaza noch in den 1990er Jahren zu den grössten Produzenten von Olivenöl und Fisch der Region gehörte, und es auch ansonsten an nichts fehlte verglichen mit heute, leiden heute die Menschen Hunger und Durst. Nur 10% der Kinder in Gaza haben täglichen Zugang zu Wasser, von abwechslungsreicher und gesunder Nahrung ganz zu Schweigen. Zyniker, insbesondere aus den USA, verweisen bei diesem Thema sehr gerne auf die vollen und reichhaltigen Gemüse- und Obststände in Gaza. Dieses Bild stimmt nur zur Hälfte, denn diese Nahrungsmittel werden aus Israel importiert und zu deutlich höheren Preisen als in Israel verkauft. Und das kann sich in Gaza so gut wie niemand leisten. Diesen Kreislauf versuchen Hilfsorganisationen zu durchbrechen, indem sie den Menschen neue Methoden des Gemüseanbaus beibringen, die gänzlich ohne zusätzlichen landwirtschaftlichen Boden auskommen, indem sie ihre Gemüsebeete beispielsweise auf den Dächern der Häuser pflanzen können.

Obwohl dringend notwendig, sind solche kleinen Erfolge nur Tropfen auf heissem Stein. Weitere gesundheitsgefährdende Probleme bleiben bestehen. Medikamentemangel, zerstörte Infrastruktur, fehlende medizinische Geräte und Hygieneprobleme bedrohen die Gesundheit der Kinder. Sie spielen in Gebäuderuinen wo immer wieder Blindgänger explodieren und Freunde verstümmeln, sie spielen an Erdlöchern die gefüllt sind mit verseuchtem Abwasser, baden manchmal darin. Dabei infizieren sie sich mit allen möglichen Erregern die nur sehr schlecht behandelt werden können.

Kommt dann irgendwann mal die Frage nach der eigenen Zukunft auf, wird die ganze Angelegenheit noch trostloser. Es gibt nicht genügend Arbeit, die Bewegungsfreiheit ist massiv eingeschränkt (abgesehen von jenen die durch die zahlreichen Tunnel nach Ägypten Ware und frei erhältliche Medikamente schmuggeln und dabei ihr Leben riskieren).
Fragt man diese jungen Männer dann nach der Ursache der Misere, kommt wie auf Kommando die Antwort "Israel"! Wer kann es ihnen auch verübeln wenn diese jungen Menschen ausser Angst, Wut, Erniedrigung nur noch Stolz und Ehre als Gefühlsausdrücke kennen? Und genau hier hat die Theorie der Israelis versagt. Die Absicht die Menschen leiden zu lassen hat zu den erwünschten Ergebnissen geführt (Demoralisation), aber nicht im Hinblick auf die eigene Sicherheit des Staates Israel.
 Mit solchen Methoden werden keine zukünftigen Politiker heranwachsen die sich dem Diktat Israels bedingungslos beugen werden, im Gegenteil, die Basis des Widerstandes wird dadurch nur weiter zementiert.
Die verschiedenen islamistischen Fraktionen im Gaza Streifen haben mit dem Ergebnis der israelischen Blockade auf jeden Fall keine Probleme an neue Mitglieder heranzukommen. Und einige von ihnen werden zu jenen shahid (Märtyrer) ausgebildet, die Israel mit genau dieser Blockade und anderen Schikanen aufzuhalten versucht und sämtliche männliche Personen als potentielle Terroristen betrachtet.



Würde aber die Blockade aufgehoben, den Menschen und insbesondere den Kindern jene Rechte zugesprochen die überall auf der Welt ihre Gültigkeit haben (oder haben sollten), dann hätte Israel zumindest den Ball wieder auf die Seite der politischen Vertretung Gaza`s, der Hamas, gespielt. Immerhin hat auch Israel die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet und müsste sich an diese Vorgaben halten. Unter Artikel 6 heisst es: "Die unterzeichnenden Staaten erkennen an, dass jedes Kind das angeborene Recht zu Leben hat, ... sie gewährleisten in grösstmöglichem Umfang das Überleben und die Entwicklung des Kindes."

Oder aber wir irren uns alle, und Israel hat mit dieser Theorie doch ihre Ziele erreicht. Das würde aber bedeuten dass gar kein Interesse an einer Lösung besteht, ganz zu schweigen von einer Zwei-Staaten-Lösung. Im Gegenteil, mit einer Heranzüchtung von einer ganzen Generation von Menschen die dem Staat Israel nicht freundlich gesinnt ist, schaffen sich die Vertreter des Expansions-Zionismus unter der Führung von Binyamin Netanyahu genau jenes Bild des bösen Arabers, welches sie seit der Gründung Israels 1948 aufrecht erhalten und tatsächlich immer mehr Israelis an diesem Bild festhalten.

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