Sonntag, 9. April 2017

Reise in den Donbass

Vor ziemlich genau zwei Jahren war ich das letzte Mal im Donbass. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten schweren Kämpfe und Schlachten des Jahres 2014 geschlagen. Namen wie Saur-Mogila, Illowaisk oder der Flughafen Donetsk wurden zum Inbegriff eines Krieges, den die Menschen im Donbass nicht haben wollten. Damals wie heute erzählten mir die Menschen, dass sie nicht verstehen können, wieso überhaupt so ein Krieg ausgebrochen ist und es ihnen weh tut zu beobachten, wie sich nun Brüder im Kampf gegenüberstehen. Die Wenigsten hegten einen Groll gegenüber den Soldaten der Ukrainischen Armee, sie führen ja lediglich Befehle aus, sagen sie. Dieses Gefühl, das man durchaus als Mitleid bezeichnen könnte, gilt nicht für die "Nazis", die "Radikalen" und ausländischen Söldner. Sie wären es, die diesen Krieg auf der ukrainischen Seite haben wollen.

Den Donbass erreicht man entweder über die ukrainische Seite, oder über Russland. Da mir der Weg über die Ukraine zu riskant erschien, nachdem wie viele andere Kollegen auch ich in den Genuss der zweifelhaften Ehre gekommen bin, auf der Schwarzen Liste der berüchtigten ukrainischen "Myrotvorets"-Seite zu landen, blieb nur noch der Weg über Russland übrig. Der einfachste Weg ist da natürlich per Flugzeug. Von Moskau über Rostov am Don, ist der Weg bis zur Grenze nicht mehr weit.

In Moskau angekommen, erwartete ich eine Megacity vorzufinden, die laut unseren Medien zumindest Anzeichen der "Isolation" und dem Sanktionsregime der Europäischen Union und USA zeigen sollte. Hatte nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am 20. März 2014 gesagt, dass sie "Russland weitgehend isoliert" sieht? Und haben wir nicht bis an die Grenze der Zumutbarkeit Geschichten gehört, wie die Menschen in Russland nur russische Propaganda schauen können?

Von alledem habe ich nichts erlebt. Im Gegenteil. Die Supermärkte führten alles, von deutschen Nudeln, über schweizer Appenzellerkäse bis zu spanischen Tomaten, die Regale waren voll mit russischen und ausländischen Produkten.


Eigene Bilder aus Moskau vom 20. März 2017

Auch das so leidenschaftlich diskutierte Thema um Propaganda und dem Vorwurf, dass die Russen nur russisches Fernsehen schauen können, kann ich nur sagen: eine glatte Lüge! Egal ob RTL2, ZDF, oder CNN und SkyNews, alles ist da und kann empfangen werden. Dass sich jetzt die wenigsten Russen für den Tatort im ZDF oder die Wollnys auf RTL2 interessieren, und von Ich bin ein Star - Holt mich raus! gar nicht erst zu sprechen, sollte normalerweise niemanden überraschen. Davon aber den Vorwurf zu konstruieren, in Russland gäbe es nur Propaganda, ist einfach nur hinterhältig und hat nichts mit Journalismus zu tun.

Jetzt könnte man argumentieren, na ja, es ist Moskau...  Einverstanden. Dass es in Moskau Dinge und Produkte gibt, die es irgendwo in Sibirien oder weit auf dem Land nicht gibt, sollte allen einleuchten. Genauso wie es in Berlin oder Hamburg Dinge gibt, von denen die Menschen in Theisenbläsishof im Schwarzwald oder Helsdorf in Sachsen weder gesehen, noch gehört haben. Das liegt in der Natur der Sache und macht den Unterschied zwischen Grossstadt und Landleben aus.

Ein wichtiger Indikator für jedes unter einem Sanktionsregime stehende Land ist die Infrastruktur. Ohne Geld, Baumaterialen und Maschinen, kann es normalerweise auch keine Modernisierung oder Bau von neuen Gebäuden, Strassen oder Brücken kommen. In Rostov am Don aber, knappe 1100 Kilometer von Moskau entfernt, verändert sich das Stadtbild enorm. Natürlich gibt es die alten Quartiere aus der Sowjetzeit, Häuser aus der Zarenzeit und hässliche Plattenbauten, die kann man nicht nicht von heute auf morgen von der Bildfläche tilgen. Aber es werden Millionen von Rubel in neue, nach westlichem Massstab moderne Quartiere hochgezogen, um Platz für die nächsten Generationen zu schaffen. Ob diese neuen Quartiere tatsächlich einladender sind, muss natürlich jeder selbst für sich entscheiden. Zumindest ist der Ausbaustandard deutlich höher.


Eigene Bilder vom 21. März 2017 aus Rostov am Don

Der Weg in den Donbass führt aus Rostov am Don zuerst entlang dem Azowschen Meer, entweder in Richtung Mariupol oder östlich in Richtung Donezk. Da um Mariupol heftige Kämpfe toben und die Strasse von dort nach Donezk, meinem Reiseziel, nicht sicher war, haben wir die östliche Route genommen. An der Grenze angekommen, wartete bereits die nächste Überraschung: ein Fahrzeug aus Polen vor uns!



Als ich etwas ungläubig zu diesem silbrigen Opel Omega schaue und "Polska" herausbringe, lacht Oleg, mein Fahrer, nur. Da da, sagt er, es gibt jede Menge Polen im Donbass. Auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Später werde ich noch viele weitere Fahrzeuge mit EU-Kennzeichen sehen, aus Litauen, Lettland, Belgien und sogar Deutschland.

Nach der Grenze sind es eigentlich nur noch 80 Kilometer bis nach Donezk. Doch für diese Strecke, benötigen wir fast dreimal so viel Zeit, wie von Rostov an die Grenze. Der Grund ist die schlechte Strasse, die sich an Illowaisk und Makeewka vorbei nach Donezk schlängelt. Keine Wartung, Krieg und Kälte haben dem Strassenbelag enorm zugesetzt: Löcher, so gross wie kleine Teiche, spannen sich manchmal von einer auf die anderen Strassenseite, so dass die Fahrzeuge teilweise auf Felder ausweichen müssen, um an ihnen vorbeizukommen. Gerade bei Regen sind diese Löcher richtiggehende Fallen für Autos und ihre Fahrer.

Es ist schon später Abend als wir in Donezk ankommen. Eigentlich war geplant, dass ich an diesem Tag wenigstens die Akkreditierung abholen kann, um dann die restlichen Tage zur vollen Nutzung zur Verfügung zu haben. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sich Pläne plötzlich ändern und dann schnell eine Alternative hermusste. Doch an Schlaf war in der ersten Nacht nicht zu denken. Obwohl mir der Klang des Krieges alles andere als neu oder fremd ist, braucht man dennoch etwas "Eingewöhnungszeit", um in der Nacht nicht auf das Donnern der Artillerie zu hören.

Der erste halbe Tag in Donezk zeigt bereits die ersten Unterschiede zu meinem letzten Besuch im April 2015. Damals waren die Eingänge von Regierungsgebäuden mit schwerbewaffneten Soldaten versehen, die nervös jeden Fremden beäugten. Ein falscher Blick bloss, so dachte ich damals, und die Hölle bricht aus. Von dieser nervösen Anspannung war diesesmal nichts mehr zu spüren. Natürlich sind die Eingänge nach wie vor mit Soldaten versehen, nur trugen sie keine volle Kampfmontur mehr, und tauschten die Patronengürtel gegen Bleistifte und Kugelschreiber aus. Die Kalaschnikow, inklusive deutschem Schäferhund, aber immer griffbereit. Für alle Fälle. Während es vor zwei Jahren genügte, einen Anruf beim Minister oder der Ministerin zu tätigen, um an den schwerbewaffneten Soldaten vorbeizukommen, muss man sich heute in diverse Listen eintragen. Die Bürokratie hat Einzug gehalten. Vom damaligen Revolutionsfieber ist nicht mehr viel übrig geblieben.

Anschliessend fahren ich, meine junge Übersetzerin Svetlana und mein Fahrer Alexej, zum Kievsky Distrikt, dem Stadtteil direkt hinter der für die EURO 2008 erbauten hochmodernen Donbass Arena. Es ist ein rein ziviles Stadtgebiet, ohne jegliche militärische Installationen oder Stellungen. Und dennoch wird der Kievsky Distrikt immer wieder Ziel von schwerem Artilleriefeuer der Ukrainischen Streitkräfte. Dort, in einem ziemlich ramponierten Wohnquartier, wo Wohnblöcke erhebliche Beschädigungen erlitten haben und die kleine Einfamilienhaussiedlung die Strasse runter völlig zerstört ist, treffen wir zwei ältere Damen. Etwas ungläubig schauen sie Alexej an, als er sie in meinem Namen für ein Interview bittet und ihnen sagt, dass ich aus Deutschland gekommen bin. Schliesslich willigen sie ein und entspannen sich sogar etwas, als sie die hübsche Svetlana an unserer Seite bemerkten.



Mit 86 Jahren ist die babuschka rechts im Bild die Älteste im Quartier, sagt mir die Dame mit der roten Mütze. Im gesamten Quartier würden von insgesamt etwa 120 Menschen, nur noch 20 hier leben. Die meisten von ihnen sind ältere Menschen, die entweder zu alt zum flüchten waren, niemanden haben wo sie hingehen konnten, oder ihren Verwandten nicht zur Last fallen wollten. Die 59-jährige Tochter der Frau im braunen Mantel starb Ende 2014 bei einem Angriff auf dieses Quartier. Bei der Erwähnung dieses tragischen Vorfalls, bricht die Quartierälteste in Tränen aus. Sie habe zwar einen Sohn, der jeden Tag nach ihr schaut und sie so gut es geht unterstützt, aber in der Wohnung ist sie eben allein. Wenn die Angriffe Abends beginnen und oft bis weit in die Nacht hinein dauern, sitzt sie im Bad und betet. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Nachbarn, die ebenso der Dinge harren wie sie selbst. Und sie betet sogar für die Seelen derjenigen, die ihnen das hier alles antun, schluchzt sie. "Der zweite Weltkrieg war besser, da wussten wir wenigstens, wofür wir kämpfen und sterben." Der einzige Lichtblick im Quartier wäre Elena, ein sechs Monate junges Mädchen der einzigen jungen Familie hier, sagt sie.


Solche Geschichten wie die der zwei netten Damen, gibt es leider zu tausenden in den selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Lugansk. Jede einzelne von ihnen würde es verdienen, hier erzählt zu werden. Genauso wie die Geschichten auf der anderen Seite der Kontaktlinie, in der Ukraine. Während ich aber wenigstens diese Menschen hier treffen durfte, werden genau die selben Gespräche mit der Bevölkerung von einigen in Kiew als Bedrohung empfunden. Glücklicherweise konnte ich einem Treffen von zwei 29-jährigen ehemaligen Schulkameraden beiwohnen, das für einen Aussenstehenden wie mich, völlig surreal erschien.

Surreal deshalb, weil sie sich eben wie zwei ehemalige Schulkameraden begrüssten, umarmten und küssten, während im Hintergrund auf beiden Seiten Scharfschützen postiert waren. Beide Männer befehligen eine Einheit, der eine auf der Seite der Ukrainischen Armee, der andere auf der Seite der "Armee der Volksrepublik Donezk" (DPR-Army). Weder Fotos, Namen oder Standort dieses Treffens durfte ich in irgendeiner Art und Weise dokumentieren. Zu gefährlich ist dieses informelle Treffen, was die Präsenz der Scharfschützen mehr als deutlich macht. Sie sprachen über ihre Kindheit, Schulzeit, gemeinsame Freunde und Familie, die auf beiden Seiten der Frontlinie leben. Sie sprachen über diesen Krieg, wie nutzlos er doch eigentlich ist. Daraufhin merkt der DPR-Mann aber an, dass er solange diesen Krieg führen wird und führen muss, wie er seine Heimat verteidigen muss. Zu meinem grössten Erstaunen widersprach ihm der Freund in der Ukrainischen Armee nicht. Im Gegenteil. Halb scherzhaft, halb im ernst erwiderte er, dass "wir doch am besten alle unsere Waffen ruhen lassen und gemeinsam nach Kiew gehen, um das Problem dort an einem Tisch zu lösen." Nach wenigen Augenblicken der Stille, die für mich wie eine halbe Ewigkeiten vorkamen und ich etwas besorgt in Richtung der Scharfschützen auf beiden Seiten blickte, brach er die Stille mit dem Abschluss, der sich mir vermutlich unauslöschlich eingebrannt hat:
"Nur glaube ich nicht, dass wir (Anm. die Ukrainer) unser Schicksal selbst bestimmen können."
Dieses Treffen der beiden Kommandeure, hatte etwas von früheren Kriegen an sich, als sich die Gegner auf offenem Feld gegenüberstanden und die Heerführer sich in der Mitte trafen, um die letzten Bedingungen für eine etwaige Kapitulation auszuloten. Nur ging es hier nicht um Kapitulation in irgendeinem Hollywood-Streifen, sondern um die brutale Realität im Donbass. Wo Familien, Freunde und Sportkameraden gezwungen wurden, zwischen ihnen und dem Land zu wählen, wo ihre Vorfahren begraben sind. Es sind herzzerreissende Momente und Geschichten, die unvorstellbar quälende Fragen nach sich ziehen, wie jene die ich immer wieder gehört habe. Die Frage nach dem Warum, warum Krieg herrscht, warum der Bruder, der Vater oder Sohn die Waffen auf den jeweils anderen richtet, wird ihnen niemand beantworten können. Natürlich kennen sie die politische Ursache, aber diese Erklärung reicht für die klaffende Wunde im Herzen nicht aus.

Ich habe nach jedem Gespräch, das ich mit zufällig getroffenen Menschen auf der Strasse oder vor ihren Wohnungen und Häusern sitzend getroffen habe, immer wieder die gleiche Frage gestellt: wie sehen Sie die Zukunft hier? Über die Zukunft ihrer Donezker Volksrepublik gab es keine einstimmigen Antworten, manche sahen optimistisch in die Zukunft, manche eher mit Sorge. Aber ausnahmslos alle waren sich darüber einig, dass es kein Zurück mehr geben kann. Kein Zurück mehr zur Ukraine, zu jenem mittlerweile verhassten Kiew, das zum Synonym für das ganze Blutvergiessen und Leid das sie ertragen müssen, geworden ist.

Der grösste Unterschied zwischen meinem Besuch von 2015 und 2017 ist aber die Atmosphäre der Stadt Donezk. Damals war mehr als die Hälfte der Bevölkerung vor dem Ansturm der ukrainischen Truppen geflohen, und die Energie der Stadt war alles andere als einladend. Doch jetzt, während der ersten schönen Frühlingstage im Jahr 2017, blüht die Stadt wieder. Der Marktplatz ist voll mit verschiedensten Lebensmitteln, Gemüse, Früchte, Spielzeug und vielem mehr. Grosse Supermarkets und kleine Mini Markets haben überall geöffnet, genauso wie die Shopping Malls. Kinder spielen auf Spielplätzen oder in den Innenhöfen der Quartiere, Jogger geniessen die Frühlingssonne entlang dem Kalmius-Fluss, an dessen Ufern sich Jung und Alt versammelt hat, junge Familien schlendern mit Kinderwagen durch die Parks und Hundebesitzer gehen mit ihren Vierbeinern spazieren. Donezk ist eine sehr schöne Stadt mit einer bewegten Geschichte, die wieder zurück ins Leben gefunden hat. Diese positive Energie spiegelt sich auch in den Gesichtern der Menschen wieder, gerade bei der jüngeren Generation, in deren Händen die Zukunft der Stadt liegt.






Dass es nicht zum völligen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens in Donezk und der sogenannten Volksrepublik Donezk gekommen ist, liegt nicht zuletzt auch an der humanitären Hilfe die monatlich eintrifft. Noch sind solche Dinge wie Schulbücher, Hefte, Schreibutensilien für Schulkinder, Schulmobiliar, oder Windeln für Babies und Senioren die an Inkontinenz leiden, extreme Mangelware. Die Preise für diese für uns eigentlich völlig normalen Dinge sind insbesondere für die Senioren, wie sie liebevoll von den jüngeren Bewohnern von Donetsk genannt werden, unerschwinglich geworden. Nicht nur dass die Preise für solche Artikel explodiert sind, sondern auch die Renten die die Senioren vorher in der ukrainischen Währung Hryvnia bezogen haben, ist wie ein Käsefondue zusammengeschmolzen, nachdem die Währung extreme Verluste nach dem Maidan-Putsch hinnehmen musste. Nach der Umstellung von Hryvnia auf den russischen Rubel - nach der Blockade durch Kiew gab es keine andere Möglichkeit zu Bargeld zu kommen - wurde die fast wertlose Rente in Hryvnia dem aktuellen Kurs entsprechend in Rubel umgewandelt. So müssen die Rentner mit rund 2600 Rubel auskommen, das sind etwa 43 € nach heutigem Kurs. Und davon muss beispielsweise die 86-jährige Dame die ich interviewt habe, 1700 Rubel für die Miete bezahlen. Somit bleiben ihr lächerliche 900 Rubel, knappe 15 €, zum "Leben" übrig.

Der 63. Humanitäre Hilfskonvoi aus Russland brachte am 23. März 2017 wieder dringend benötigte Waren für die jüngsten Bewohner von Donezk, wie Windeln, Babypuder, Milchpulver, Breie, etc.








Ohne diese Hilfslieferungen wäre das Leben höchstwahrscheinlich nicht so schnell und positiv - so gut es eben unter den gegebenen Umständen geht - zurückgekehrt. Aus Dank hat die Stadt Makeevka den ersten LKW dieser russischen Hilfslieferungen auf einen Sockel gehoben und ihm so ein Denkmal gesetzt. Und bevor jetzt manch konspirative Seele sich die Mühe macht und den Absender der Produkte ermitteln will, die OOO «АГАТ», dem sei gleich versichert, dass es nicht der russische AGAT-Konzern ist, der Waffen für die Marine herstellt.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen